Die pulsierende und zerrissene Moderne: Wahrnehmungen, Gefühle und Gemeinsamkeiten in Meidners, Kirchners und Strawinskys Werken
Betrachten wir Ludwig Meidners "Ich und die Stadt" (1913), Ernst Ludwig Kirchners "Straße mit roter Kokotte" (1914) und Igor Strawinskys Ballettmusik "Le Sacre du printemps" (Uraufführung 1913), so fallen unmittelbar intensive Eindrücke auf, die starke Gefühle und Stimmungen hervorrufen. Trotz ihrer unterschiedlichen künstlerischen Disziplinen scheinen diese Werke auf einer tieferen Ebene miteinander zu resonieren und die Essenz einer Epoche einzufangen.
Was fällt auf?
In Meidners "Ich und die Stadt" sticht die eruptive, chaotische Darstellung der urbanen Szenerie ins Auge. Gebäude scheinen sich aufzulösen, Perspektiven kippen, und eine fiebrige Unruhe durchzieht das Bild. Die überhöhte, fast karikaturhafte Selbstinszenierung des Künstlers inmitten dieses Strudels verstärkt den Eindruck einer subjektiven, vielleicht sogar angstvollen Wahrnehmung der modernen Großstadt.
Kirchners "Straße mit roter Kokotte" präsentiert eine ebenso nervöse, aber stilistisch andersartige Interpretation des städtischen Lebens. Die spitzen, kantigen Formen der Figuren und Gebäude, die grellen, unnatürlichen Farben und die Enge des Bildraums erzeugen ein Gefühl von Disharmonie und latenter Bedrohung. Die Kokotte, als Symbol für die Schattenseiten der Großstadt, dominiert die Szene und trägt zur beunruhigenden Atmosphäre bei.
Strawinskys "Le Sacre du printemps" wiederum bricht mit traditionellen musikalischen Konventionen. Dissonante Akkorde, unregelmäßige Rhythmen und repetitive, fast archaische Motive erzeugen eine rohe, elementare Klangwelt. Die Musik evoziert Bilder von ritueller Wildheit, archaischer Kraft und einer losgelösten Energie, die jegliche Sanftheit vermissen lässt.
Welche Gefühle oder Stimmungen werden ausgelöst?
Die Werke rufen ähnliche emotionale Reaktionen hervor, wenn auch auf unterschiedliche Weise:
- Angst und Unbehagen: Meidners apokalyptische Stadtvision und Kirchners bedrohliche Straßenszene erzeugen ein Gefühl der Verunsicherung und potenziellen Gefahr. Auch Strawinskys Dissonanzen und abrupten Rhythmuswechsel können beim Hörer ein Gefühl des Unbehagens und der inneren Aufruhrs auslösen.
- Nervosität und innere Zerrissenheit: Die fragmentierten Formen und die dynamische Unruhe in den Gemälden spiegeln die Hektik und die psychische Belastung des modernen Lebens wider. In der Musik findet dies Entsprechung in den sprunghaften Rhythmen und den abrupten dynamischen Veränderungen.
- Faszination und Intensität: Trotz der beunruhigenden Aspekte üben die Werke eine starke Faszination aus. Die rohe Energie in Strawinskys Musik, die expressive Farbigkeit Kirchners und die visionäre Kraft Meidners ziehen den Betrachter oder Zuhörer in ihren Bann.
- Ein Gefühl des Umbruchs und des Neuen: Alle drei Werke brechen bewusst mit traditionellen Formen und Ausdrucksweisen. Sie vermitteln das Gefühl einer Zeit des radikalen Wandels, in der alte Sicherheiten verloren gehen und neue, aufwühlende Erfahrungen an ihre Stelle treten.
Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Musik und Bild?
Trotz der unterschiedlichen Medien lassen sich deutliche Gemeinsamkeiten zwischen den Werken erkennen:
- Der Ausdruck von Intensität und Unmittelbarkeit: Sowohl die expressiven Pinselstriche und die grellen Farben in den Gemälden als auch die rohe, ungeschliffene Klangsprache Strawinskys zielen auf eine direkte und unmittelbare Wirkung auf den Rezipienten ab.
- Die Auflösung traditioneller Formen: Meidner und Kirchner lösen die traditionelle Perspektive und naturalistische Darstellung auf, um ihre subjektiven Eindrücke zu vermitteln. Strawinsky bricht mit den Regeln der klassischen Harmonie und Rhythmik, um eine neue musikalische Sprache zu schaffen.
- Die Darstellung einer fragmentierten Realität: Die zersplitterten Formen in den Bildern und die unzusammenhängend wirkenden musikalischen Motive spiegeln ein Gefühl der Desorientierung und der Brüchigkeit der modernen Welt wider.
- Die Betonung des Subjektiven und Emotionalen: Alle drei Künstler scheinen weniger an einer objektiven Darstellung der Realität interessiert zu sein als vielmehr daran, ihre inneren Zustände und ihre emotionalen Reaktionen auf die moderne Welt auszudrücken.
- Die Antizipation des Umbruchs: Die Werke entstanden kurz vor dem Ersten Weltkrieg und können in ihrer Intensität und Zerrissenheit als Vorahnung der kommenden Katastrophe interpretiert werden. Sie fangen auf eindringliche Weise die latente Spannung und die unterschwellige Bedrohung der Zeit ein.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Werke von Meidner, Kirchner und Strawinsky auf eindringliche Weise die Ambivalenz der Moderne widerspiegeln: die Faszination und den Schrecken des Fortschritts, die Hektik und die Entfremdung der Großstadt, die Suche nach neuen Ausdrucksformen in einer Zeit des tiefgreifenden Wandels. Sie fordern den Betrachter und Zuhörer heraus, sich mit den Brüchen und der Intensität dieser Epoche auseinanderzusetzen und die emotionalen und psychischen Auswirkungen der Moderne zu spüren.