Die epische Literatur des 19. Jahrhunderts, insbesondere der Roman des Realismus, war von klaren Strukturen geprägt. Erzählungen folgten meist einer chronologischen Handlung, in deren Zentrum ein Held stand, dessen Entwicklung nachvollziehbar geschildert wurde. Ein oft auktorialer, also allwissender, Erzähler führte die Lesenden sicher durch die Geschichte, ordnete das Geschehen und lieferte eindeutige Interpretationen. Um die Wende zum 20. Jahrhundert änderte sich dies grundlegend. Tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzungen wie die Industrialisierung, das Leben in den anonymen Großstädten, die Erfahrungen der Weltkriege und neue wissenschaftliche Erkenntnisse, etwa die Psychoanalyse Sigmund Freuds, erschütterten die alten Gewissheiten. Diese Krisenerfahrung spiegelte sich auch in der Literatur wider und führte zur Entstehung der modernen Epik.
Eine der auffälligsten Veränderungen in der modernen Epik betrifft die Art und Weise, wie Geschichten erzählt werden. Die traditionelle, lineare Handlung löst sich auf. Stattdessen finden sich fragmentierte Erzählstrukturen, die von Zeitsprüngen, Rückblenden und Vorausdeutungen durchzogen sind. Die Autoren experimentierten mit neuen Techniken, um die Komplexität der menschlichen Wahrnehmung und des Bewusstseins darzustellen. Die äußere, objektive Handlung tritt in den Hintergrund, während die innere Welt der Figuren in den Fokus rückt.
„Der allwissende Erzähler, der die Welt ordnet und deutet, verliert seine Glaubwürdigkeit und tritt hinter die subjektive Wahrnehmung der Figuren zurück.“
Techniken wie der innere Monolog, bei dem die ungefilterten Gedanken einer Figur in der Ich-Form wiedergegeben werden, oder der Bewusstseinsstrom (stream of consciousness), der assoziative und sprunghafte Gedankengänge abbildet, werden zu zentralen Stilmitteln. Oft wird eine Geschichte auch aus multiperspektivischer Sicht erzählt, wobei verschiedene Figuren dasselbe Ereignis aus ihrer subjektiven Sicht schildern. Dies verdeutlicht, dass es keine einzige, objektive Wahrheit mehr gibt, sondern nur noch eine Vielzahl individueller Wirklichkeiten. Autoren wie James Joyce in seinem Roman „Ulysses“ oder Alfred Döblin in „Berlin Alexanderplatz“ nutzten zudem die Montagetechnik, bei der sie Zeitungsausschnitte, Werbeslogans oder andere Texte in ihre Erzählung einfügten, um die Reizüberflutung der modernen Welt abzubilden.
Mit der veränderten Form veränderten sich auch die Inhalte der epischen Werke. Die zentralen Themen der Moderne sind oft die Entfremdung, die Isolation und der Identitätsverlust des Einzelnen in der anonymen Massengesellschaft. Die Großstadt wird zu einem wichtigen Schauplatz, der nicht mehr als Ort der Gemeinschaft, sondern als Labyrinth voller Hektik und Verlorenheit dargestellt wird. Die Figuren moderner Romane sind selten klassische Helden, die ihr Schicksal aktiv gestalten. Vielmehr handelt es sich um Anti-Helden: passive, zweifelnde und oft handlungsgehemmte Charaktere, die an der Komplexität der Welt und an ihrer eigenen Psyche scheitern.
„An die Stelle des traditionellen Helden tritt oft das orientierungslose, von der komplexen modernen Welt überforderte Individuum.“
Die Werke von Franz Kafka beispielsweise thematisieren die Ohnmacht des Individuums gegenüber undurchschaubaren, absurden Systemen. Ein weiteres zentrales Motiv ist die Sprachkrise – der Zweifel daran, ob Sprache überhaupt noch in der Lage ist, die Realität angemessen zu erfassen und eine echte Kommunikation zwischen Menschen zu ermöglichen. Die moderne Epik zeichnet somit ein desillusioniertes Bild des Menschen und seiner Welt, das die Zerrissenheit und die Orientierungslosigkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts widerspiegelt.